Rollstuhlfahrer oder Disneyworld

Hierzulande sind sie klar: die Rollstuhlfahrer. Sie sind Behinderte. Entsprechend dem eher merkwürdigen als bemerkenswerten Verhältnis unserer Gesellschaft zu Behinderten werden sie auch angesehen, wenn sie in ihren Stühlen auf Rollen fahren, unsere Rollstuhlfahrer. Wenn sie überhaupt angesehen werden und nicht auffällig unauffällig weggesehen wird. Rollstuhlfahrer in USA haben es da anders. Erstens, weil die Amerikaner ein bemerkenswertes und kaum merkwürdiges Verhältnis zu ihren Behinderten haben. Zweitens, weil die Amerikaner eine sehr nahe Beziehung speziell zum Rollstuhl pflegen. Denn der Rollstuhl, Symbol für befürchtete und bedrohende Behinderung in Uelzen und dem Deutschland drumherum, ist dem Durchschnittamerikaner buchstäblich nahe: Bei größeren Supermärkten in den Großstädten stehen gleich mehrere Rollstühle in der Nähe der Kassen. An den Flughäfen genauso. Aber auch in Disneyworld in Florida und Disneyland in Kalifornien und anderen Vergnügungsstätten steht der Rollstuhl und wartet auf Benutzer. Diese Rollstühle in Amerika sind - nicht für Behinderte, sondern für alle Menschen. Amerikanische Rollstühle stehen an verschiedensten Stellen bereit für müde Amerikaner, für gesunde und kranke Amerikaner, für junge und alte müde gewanderte Amerikaner. Ich sah darin ältere, aber ebenso jüngere Fußlahme, oder allgemein Erschöpfte, die Teil zwei ihres Supereinkaufs im Supermarkt im Rollstuhl verbringen. Ich sah frischforsche Amerikaner bei Disneyworld morgens um 9 Uhr losmarschieren und gegen Frühnachmittag im Rollstuhl. Je- der schiebt mal jeden. Es müssen nicht Bekannte sein, die sich fürs Schieben anbieten. Und es muss nicht immer Geld sein, wo- für man sich schieben lässt - vor- bei an den Vergnügungen des alten Walt (Disney) und der neuen Welt....Vielleicht gibt es noch Rettung für unser deutsches merkwürdiges Verhältnis zu Rollstühlen und denen, die darinsitzen. Ich bin sicher: Wenn erstmal bei Uelzener Supermärkten und im Heidepark Soltau die Rollstühle genauso selbstverständlich neben den Einkaufskarren und Billett-Buden stehen dann stellt sich eine andere Beziehung von uns zu denen ein, die im Rollstuhl sitzen. Dauerbehindert oder nur müde. Noch besser: Wir sitzen und selbst dann. Die Ev. Fachhochschule Hannover lädt die Studieninteressenten für ihren Studiengang Körperbehindertenpädagogik erst einmal zu mehreren Tagen „Leben im Rollstuhl“ ein- bevor ein Studien- platz vergeben wird. Solche Selbsterfahrung (und ihre Grenzen) festzustellen das wäre einmal was für Uelzen. Vielleicht rollt es dermaleinst selbstverständlicher bei uns.

28. März 1995